Der unwillkürliche Harnverlust (Harninkontinenz)
Zusammenfassung
Der unwillkürliche, unfreiwillige Harnverlust wird
vom Arzt als Harninkontinenz bezeichnet. Der betroffene Mensch ist außerstande, den
Zeitpunkt des Wasserlassens selbst zu bestimmen. Dies kann verschiedene Ursachen haben
wie Störungen von Harnblase, Harnröhre, Harnblasenschließmuskel, Beckenbodenmuskulatur,
Nerven, welche diese Organe versorgen, oder eine vergrößerte Vorsteherdrüse beim Mann.
Die Harninkontinenz ist ein verbreitetes Leiden, das Männer und Frauen aller
Altersstufen gleichsam betrifft. Durch die zunehmende Lebenserwartung kommt dieser
Erkrankung immer größere medizinische und gesellschaftliche Bedeutung zu. Die Zahl der
Betroffenen, die medizinische Hilfe sucht, steigt unter anderem auch durch eine
zunehmende Aufklärung. So sind in Deutschland etwa 6 Millionen Menschen an einer
Harninkontinenz erkrankt. Oft wird dieses Leiden vom Patienten aus Schamgefühl selbst
dem Arzt gegenüber nicht erwähnt. Unangenehme Begleiterscheinungen des unwillkürlichen
Harnabgangs können Geruchsentwicklung und ein Aufweichen der Haut mit möglichem
Pilzbefall sein. So kommt es häufig aus Scham zum Rückzug der Betroffenen in die
gesellschaftliche Vereinsamung sowie zu starker seelischer und körperlicher Belastung.
Freundschaften gehen hierdurch verloren. Der rechtzeitige Besuch beim Arzt vermag dies
zu verhindern, indem er nach einer Befragung und durch verschiedene
Untersuchungsmethoden die Ursache und Form der Harninkontinenz herauszufinden versucht
und daran die Behandlung ausrichten wird. Diese kann einfache Hygiene-Maßnahmen,
Medikamente, Verhaltenstherapien u. a. bis hin zu operativen Maßnahmen umfassen. Dabei
ist während und nach der Behandlung eine fortgesetzte Betreuung durch den Arzt wichtig,
um den Behandlungserfolg auch hinsichtlich der Zufriedenheit des Patienten zu
kontrollieren.
Bau und Funktion des ableitenden
Harnsystems
Die im hinteren Bauchraum gelegenen Nieren produzieren
den Urin, leiten ihn weiter durch die Harnleiter in die Harnblase, wo er gesammelt wird
bis es zum natürlichen Harndrang kommt und der Mensch daraufhin geplant und kontrolliert
Wasser lässt.
Voraussetzung für dieses Funktionieren der Harnausscheidung ist das geordnete
Zusammenspiel von Gehirn, Rückenmark und Nerven mit den Muskeln des Beckenbodens und der
Harnblase mit ihrem Schließmuskel am Ausgang zur Harnröhre. Der Weg des Harns führt dann
weiter durch die Harnröhre, an deren Ende er den Körper verläßt.
Die Untersuchungen bei der Harninkontinenz
An erster Stelle steht
das Gespräch mit dem Arzt. Der Betroffene schildert die Krankheitszeichen (Symptome),
wobei der unfreiwillige Harnabgang typisch ist. Frauen berichten zudem auch häufig über
ein Vorfallgefühl im Dammbereich. Durch weitere gezielte Fragen verschafft sich der Arzt
dann wichtige Informationen, die über den richtigen Einsatz der sich anschließenden
Untersuchungen entscheiden. In der Bewertung aller erhobenen Befunde wird letztlich die
nachfolgende Behandlung daraus entwickelt und mit dem Patienten besprochen.
Bei
Fragen zur Krankheitsvorgeschichte wie dem Beginn der Erkrankung ist es besonders
wichtig, vorausgegangene Operationen anzugeben. Beim Mann z. B. eine Operation an der
Vorsteherdrüse, bei der Frau z.B. eine Gebärmutteroperation. Eine ganz wichtige Frage
ist: Wann und unter welchen Bedingungen kommt es zu unkontrolliertem Harnverlust?
Zur Festlegung der Form der Harninkontinenz gebührt eine besondere Aufmerksamkeit den
Organen der ableitenden Harnwege: Angefangen von der Niere über die Harnblase bis zur
Harnröhre mit ihrer äußeren Öffnung, dabei werden die äußeren und inneren
Geschlechtsorgane einbezogen sowie alle anderen Organe in der Nachbarschaft. Nach der
körperlichen Untersuchung können weitere je nach Erfordernis folgen, so die
Blutuntersuchung ergänzt mit einer Blutzuckerbestimmung, die tastende Untersuchung durch
den Enddarm zur Beurteilung z. B. der Vorsteherdrüse des Mannes verbunden mit der Frage:
Ist sie vergrößert und behindert den ordentlichen Harnabfluß? Bei Frauen wird eine
gynäkologische Untersuchung ergänzend Auskunft geben. Eine Beurteilung des Urins, eine
Ultraschalluntersuchung, die Blasendruckmessung, Röntgenaufnahmen und möglicherweise die
Blasenspiegelung (Zystoskopie) spielen weiter eine wichtige Rolle bei der Abklärung der
Harninkontinenz. Nachfolgend werden noch einige der vorgenannten Untersuchungsmaßnahmen
näher erläutert:
Die Urinuntersuchung
Eine durch
Bakterien verursachte Blasenentzündung kann für eine Dranginkontinenz verantwortlich
sein. Durch eine einfache Urinuntersuchung kann dies weiter eingegrenzt werden. Auch die
Beurteilung von Zellmaterial im Urin gibt wertvollen Aufschluß.
Die
Ultraschalluntersuchung
Sie ist eine universelle Methode und wird häufig genutzt.
Sie ist leicht und schnell einsetzbar und gibt dem Urologen viele Informationen zur
Beurteilung der Organe im Bauch und im Becken. Sie ist ein völlig schmerzfreies
Verfahren. Der Arzt sieht auf einem Bildschirm ein Bild aus dem Körperinneren.
Die Blasendruckmessung (Zystometrie)
Dies ist eine der wichtigsten
Untersuchungen zur Abklärung der Harninkontinenz. Die Harnblase wird über einen Katheter
mit Flüssigkeit gefüllt. Während des Auffüllvorgangs werden die Druckwerte unter den
verschiedenen Füllungszuständen gemessen. Gleichzeitig wird auch im Enddarm gemessen, um
Druck von außerhalb auf die Harnblase auszuschließen. Kombiniert wird die Zystometrie
ggf. auch mit einer Röntgenbild-Darstellung des Harnabflusses nach Einfüllen von
Kontrastmittel in die Harnblase; der Patient wird dabei zum Husten aufgefordert.
Die Blasenspiegelung (Zystoskopie)
Die Zystoskopie wird unter örtlicher
Betäubung oder in Narkose durchgeführt. Das Zystoskop (sh. Abb.) ist ein Instrument, in
dem ein Licht leitendes System mit einer Lichtquelle verbunden ist. Die Durchführung
einer Blasenspiegelung wird in der Regel vor geplanten operativen Maßnahmen
durchgeführt. Bei dieser Untersuchung kann die Harnröhre und die Harnblase gut beurteilt
werden. Beim Mann ist zudem die Vorsteherdrüse teilweise direkt einsehbar.
Welche Formen der Harninkontinenz gibt es und welches sind geeignete
Behandlungsmaßnahmen?
Die Belastungsinkontinenz
Sie wird
auch als Stressinkontinenz bezeichnet, weil der Verlust von Urin bei körperlicher
Belastung auftritt, z.B. beim Heben oder Tragen schwerer Gegenstände, bei anderen
körperlichen Anstrengungen wie Laufen, Treppensteigen oder Aufstehen aus dem Sitzen,
beim Husten oder Niesen. Es ist das Hauptmerkmal dieser Form der Harninkontinenz.
Diesem liegt eine Funktionsstörung des Harnröhrenschließmuskels zugrunde. Oft findet
sich daneben eine Schwäche auch der Muskulatur des Beckenbodens. Letzteres ist häufig
bei Frauen besonders nach Geburten oder bei Übergewicht zu finden. Die Organe des
Beckens verlagern sich dabei nach unten, besonders die Harnblase ist betroffen. In
schweren Fällen tritt auch der Enddarm und die Gebärmutter hinab und es kann zu einem
Vorfall kommen.
Die Stressinkontinenz ist beim Mann eher selten und dann meist
durch eine Verletzung des Schließmuskels der Blase bedingt, wie sie zum Beispiel nach
einem operativen Eingriff an der Vorsteherdrüse oder nach einem Unfall auftreten
kann.
In jedem Falle erfordert die Stressinkontinenz eine der Schwere nach
angepaßte Behandlung:
Bei gering ausgeprägter Stressinkontinenz - nur bei schwerer
körperlicher Anstrengung kommt es zum Urinverlust - kann die Beckenbodengymnastik unter
entsprechender fachlicher Anleitung das Gewebe straffen und stärken. Durch eine solche
krankengymnastische Behandlung erfährt auch der Harnröhrenverschlußmechanismus eine
Kräftigung. Angestrebt wird durch diese Übungen auch das Training für die willkürliche
Kontrolle der Harnblase (Biofeedbacktraining). Erste Erfolge der krankengymnastischen
Behandlung werden oft erst nach einem längeren Zeitraum sichtbar, weshalb auch eine
intensive Mitarbeit des Patienten erforderlich ist. So vergehen nicht selten sechs
Monate, bis eine deutliche Besserung der Krankheitszeichen nachweisbar ist.
Die
elektrische Stimulation der Muskulatur des Beckenbodens kann ergänzend Anwendung
finden.
Bei stark ausgeprägter Stressinkontinenz, d. h. Harnverlust bereits
bei einfachen Verrichtungen des täglichen Lebens, muß eine Kombination von
nicht-operativer mit einer operativen Behandlung erwogen werden.
Bei
Harnverlust bereits in Ruhe oder im Liegen kann als Möglichkeit nur eine der
vielfältigen operativen Verfahren ins Auge gefaßt werden, was hauptsächlich bei Frauen
in Betracht kommt. Eine weitere Maßnahme ist die Anwendung von Windeln oder die
dauerhafte Ableitung des Urins mittels eines Katheters durch die Bauchdecken. Hierbei
ist jedoch besonderes Augenmerk auf Hautreizungen und Infektionen des Urins zu
legen.
Die Dranginkontinenz
Bei dieser Form der Harninkontinenz ist
der Harnröhrenverschlußmechanismus zwar intakt, jedoch liegt eine Überaktivität des
Blasenmuskels zugrunde, die sich darin zeigt, daß die Harnblase nicht mehr in der Lage
ist, eine normale Menge Urin aufzunehmen, um ihn über einen längeren Zeitraum zu
speichern. Die Betroffenen leiden unter einem ständigen Gefühl des Harndrangs, den sie
nicht unterdrücken können. Der ungewollte Harnverlust führt zu häufigen Toilettengängen
mit der Entleerung von jeweils nur geringen Harnmengen.
Bei der leichteren Form
der Dranginkontinenz spricht man auch von einer Reizblase. Neben vermehrten
Toilettengängen ist es jedoch noch möglich, den Drang des Wasserlassens zu
unterdrücken.
Neben dem Training der Harnblase mit gezieltem Einüben einer
regelmäßigen Harnblasenentleerung ist bei einer Vielzahl von Patienten durch die Gabe
von bestimmten Medikamenten eine Linderung und Heilung möglich. Solche Medikamente
wirken auf das Nervensystem, sie nehmen Einfluß auf die Spannung der
Harnblasenmuskulatur. Mit einem Wirkungseintritt der medikamentösen Therapie ist aber
erst nach etwa vier bis sechs Wochen zu rechnen. Bei guter Mitarbeit durch den Patienten
steht als alternative Behandlung die elektrische Reizung der Beckenbodenmuskulatur zur
Verfügung; auch hierbei kann ein halbes Jahr vergehen, bis ein Erfolg eintritt.
Die Reflexinkontinenz
Dieser Form der Harninkontinenz liegt eine Störung
der Nerven zugrunde, welche normalerweise verantwortlich sind für ein regelrechtes
Wasserlassen. Je nach Ort der Schädigung - Gehirn, Rückenmark oder Nerven - tritt durch
eine spontan und unbewußt erhöhte Tätigkeit der Harnblasenmuskulatur die typische
Entleerungsstörung auf. Es liegen hohe Drucke in der Harnblase vor. Durch diese
teilweise oder komplette Fehlsteuerung von Harnblase und Schließmuskel kommt es zu einem
unverhofften Harnverlust, den eine betroffene Person nicht mehr zu kontrollieren vermag.
Es kommt zu einem Verbleib von Urin in der Harnblase (Restharn), der sich mit Keimen
infizieren kann. Dies kann der Arzt durch seine Untersuchungen erkennen und dann
behandeln. Krankheiten wie eine Multiple Sklerose, eine Querschnittslähmung oder auch
die Schüttelkrankheit (Morbus Parkinson) sind neben anderem Beispiele für solche
Nervenkrankheiten.
Zur Verminderung des erhöhten Drucks in der Harnblase,
welcher langfristig eine Schädigung verursachen würde, wird sie regelmäßig mit einem
Katheter entleert. Dies kann der Patient auch selbst erlernen. Zusätzlich werden
bestimmte Medikamente verabreicht, welche die Übererregbarkeit und Spannung des
Harnblasenmuskulatur vermindern.
Neuere Möglichkeiten sind kontrollierte
elektrische Reizungen der Harnblase durch ein Gerät, welches unter die Haut gepflanzt
werden kann.
Die Überlaufinkontinenz
Zumeist ist der Grund für das
Vorliegen einer Überlaufblase ein Abflußhindernis im Bereich des Harnblasenausgangs wie
z.B. eine vergrößerte Vorsteherdrüse, die die Entleerungsstörung hervorruft. Der
Blasenmuskel wird durch das unbemerkte Wachstum der Vorsteherdrüse überdehnt und es
kommt zum "Überlaufen" der Harnblase und zum unwillkürlichen Verlust kleinster
Urinmengen. Jeder neue Tropfen, den die Niere über die Harnleiter in die Harnblase
entläßt, führt weiter zum "Überlaufen", was der Betroffenen als ständiges
"Tröpfeln" beschreibt. Diese Form der Harninkontinenz betrifft dann auch
zumeist männliche Personen.
In einem solchen Falle wird ein operatives Vorgehen
angestrebt, um dadurch die Entfernung des Hindernisses zu erreichen. Als
Zwischenmaßnahme bis zur Operation wird die Harnblase durch einen Katheter - meist über
die Bauchdecke eingeführt - entlastet.
Auf die Wichtigkeit der
Vorsorgeuntersuchung bei der Erkennung einer vergrößerten Vorsteherdrüse beim Manne sei
an dieser Stelle hingewiesen.
Spezielles zu den operativen
Behandlungsmöglichkeiten
Jede Form der Harninkontinenz bedarf einer
individuellen Behandlung. Es ist zwischen nichtoperativer und operativer Behandlung zu
unterscheiden.
Als operatives Vorgehen bei der Harninkontinenz der Frau bietet
sich bei bestehender Beckenbodenschwäche mit Blasensenkung und Senkung der inneren
Geschlechtsorgane (Blasen-, Gebärmutter-, Scheidenvorfall) eine korrigierende Operation
an. Dieser Eingriff kann sowohl durch einen Unterbauchschnitt als auch von der Scheide
aus vorgenommen werden. Neueste Operationstechniken ermöglichen auch einen ambulanten
Eingriff mit minimal-invasiver Therapie und geringer Belastung für die Betroffene.
Allerdings gibt es noch keine Langzeitergebnisse.
Bei Fehlbildungen des
harnableitenden Systems oder bei Zustand nach entzündlichen Erkrankungen oder operativen
Eingriffen im Beckenbereich liegt in seltenen Fällen eine vollständige Harninkontinenz
vor. Hier ist eine operative Behandlung nötig, die im Einzelfalle auf die zugrunde
liegende Problematik zugeschnitten ist.
Extrem selten wird es erforderlich
sein, den Harn über den Darm abzuleiten. Hierfür stehen bestimmte Operationstechniken
zur Verfügung. Diese Eingriffe werden an speziellen urologisch-operativen Zentren mit
entsprechender Erfahrung auf dem Gebiet der Chirurgie von Ersatz-Harnblasen
durchgeführt.
Ist die Harninkontinenz vermeidbar?
Nicht in allen Fällen kann das Auftreten einer Harninkontinenz vermieden werden. Jedoch
können insbesondere Frauen rechtzeitig entsprechende Maßnahmen wie Gewichtsreduktion bei
Übergewicht oder Beckenbodengymnastik nach Geburten ergreifen, um der Harninkontinenz
vorzubeugen. Durch eine Gewichtsreduktion wird insgesamt der Druck auf den Beckenboden
verringert. Liegt eine beginnende Beckenbodenschwäche vor mit nur gelegentlich
auftretender Harninkontinenz, sollten schwere körperliche Arbeiten vermieden werden. Um
einer Verschlimmerung vorzubeugen, sollte in jedem Fall der Rat des Urologen eingeholt
werden. Vorbeugende Untersuchungen beim Mann wie bei der Frau sind zu empfehlen.
Insbesondere sollte heutzutage kein Mensch mehr aus Scham den Weg zum Arzt scheuen, um
frühzeitig Maßnahmen zur Verhinderung einer Harninkontinenz zu ergreifen.
Die
Harninkontinenz ist in den meisten Fällen heilbar bzw. deutlich zu verbessern. Wichtig
ist jedoch eine Untersuchung durch den Urologen mit anschließender Behandlung.